Late‑Window-Paradox
Englisch: late-window paradox
Definition
Der Begriff Late-Window-Paradox, deutsch etwa "Spätfenster-Paradoxon", bezeichnet das Phänomen, dass bei manchen Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall und Verschluss einer großen Hirnarterie der relative Nutzen einer endovaskulären Thrombektomie in einem späten Zeitfenster (z. B. 6 bis 24 h oder mehr nach Symptombeginn) größer erscheint als bei früher Intervention – obwohl eine spätere Behandlung klassischerweise mit einem schlechteren Ergebnis assoziiert ist.
Hintergrund
Frühere Schlaganfall-Leitlinien orientierten sich stark am Prinzip „Time is brain". Das heißt: je früher eine Reperfusionstherapie erfolgt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, gefährdetes Gehirngewebe zu retten. Mit der Einführung moderner Bildgebung und endovaskulärer Verfahren wurden zunehmend Studienergebnisse publiziert, die zeigten, dass eine Thrombektomie bei sorgfältiger Patientenauswahl auch im Zeitfenster von 6 bis 24 Stunden oder später signifikante Effekte erzielen kann.
Dabei kann – paradoxerweise – der Unterschied zwischen Therapie- und Kontrollgruppe in den späten Zeitfenstern größer sein als in früheren.
Erklärung
Mehrere Faktoren tragen zur Entstehung des Late-Window-Paradox bei:
- Patientenselektion („Slow Progressors“): Bei den Studien im späten Zeitfenster wurden häufig Patienten eingeschlossen, bei denen durch gute Kollateralversorgung oder andere Gründe das Wachstum des ischämischen Kernbezirks langsam verlief („slow infarct growth“). So war auch nach Stunden noch ausreichend Penumbra vorhanden.
- Bildgebungsbasierte Auswahl statt reiner Zeitgrenzen: Moderne Studien verwendeten Verfahren wie Perfusions-CT oder MRT, um den ischämischen Kern sowie das noch rettbare Gewebe („mismatch“) zu quantifizieren. Damit rückt nicht allein die Zeit seit Symptombeginn in den Fokus, sondern der Zustand des Gehirns („tissue clock“).
- Schlechtes Ergebnis der Kontrollgruppe im späten Fenster: In klinischen Studien war die Prognose derjenigen Patienten, die keine Thrombektomie erhielten, im späten Fenster oftmals sehr ungünstig – dies führt zu einem größeren relativen Therapieeffekt in der aktiven Gruppe.
- Heterogenität im Infarktverlauf: Nicht alle Patienten mit großem Gefäßverschluss weisen ein rasches Kernwachstum auf. Bei denen mit langsamer Progression ist eine spätere Intervention noch sinnvoll.
Klinik
Das Late-Window-Paradox hat Bedeutung für die Versorgung von Schlaganfallpatienten: Es zeigt, dass ein spätes Reperfusions-Zeitfenster nicht per se ein Ausschlusskriterium sein muss, wenn die Bildgebung günstige Befunde zeigt (z. B. kleiner Kern, gute Kollateralen). Wichtig ist eine patientenangepasste Entscheidung, basierend auf Bildgebung und klinischem Zustand – nicht allein aufgrund des verstrichenen Zeitintervalls.
Bewertung
Das Konzept unterstreicht die Notwendigkeit schneller Bildgebung (z. B. Perfusions-CT, Angiographie) und eines optimierten Systems zur frühzeitigen Identifikation von Thrombektomie-Kandidaten. Es gilt jedoch weiterhin, dass die Zeit bis zur Reperfusion ein starker Prädiktor für das klinische Ergebnis ist.
Quellen
- Albers G W. Late Window Paradox. Stroke. 2018; 49(3): 768-771. doi: 10.1161/STROKEAHA.117.020200.
- Al-Mufti F, Elfil M, Ghaith H S et al. Time-to-treatment with endovascular thrombectomy in patients with large-core ischemic stroke: the ‘late window paradox’. J Neurointerv Surg. 2023; 15(8): 733-734. doi: 10.1136/jnis-2023-020493.
- European Stroke Organisation. Endovascular treatment beyond the 24-hour mark. 2023.
- Hughes S. “‘Late Window’ Paradox: Benefit Increases With Later Thrombectomy?” Medscape. Jan 26, 2018.