Kulturspezifisches Syndrom
Synonym: kulturgebundenes Syndrom
Englisch: culture-bound syndrome, CBS
Definition
Als kulturspezifisches Syndrom werden in der Medizinanthropologie Verhaltensweisen, Erfahrungen oder Zustände bezeichnet, die innerhalb eines definierten kulturellen oder subkulturellen Kontextes regelmäßig auftreten und als krankhaft gewertet werden. Sie repräsentieren häufig in ihrer ätiologischen Konzeption zentrale Bedeutungsfelder dieses Kontextes.
Im DSM-IV gibt es eine eigene Definition des kulturspezifischen Syndroms, sowie eine Auflistung häufiger kulturspezifischer Syndrome.
Hintergrund
Jede menschliche Gesellschaft verfügt über ein ihr eigenes Repertoire von Begriffen und Konzepten zur Benennung und Erklärung von Krankheit. Obwohl dabei den als krankhaft klassifizierten Zuständen häufig biologische Ursachen zugrunde liegen, ist die Beschreibung, Interpretation und Klassifikation von Krankheiten ein kulturell geprägter Vorgang, dem normative Entscheidungen über an den Körper zu richtende Funktionserwartungen zugrunde liegen.
Da sich diese Funktionserwartungen je nach Kontext unterscheiden, variiert auch die Beurteilung, ob ein Zustand als krankhaft anzusehen ist, oder nicht. Zudem führen unterschiedliche ätiologische und kausale Vorstellungen zu divergierenden Einschätzungen, welche Symptome und Krankheitszeichen als zusammengehörig zu betrachten sind.
Beispiele
In der medizinanthropologischen Forschung wurden kulturspezifische Syndrome zunächst in Medizinsystemen außerhalb der westlichen Welt beschrieben. Zu nennen sind hier zum Beispiel Susto in Mittel- und Südamerika[1], Nervoso in Brasilien[2], Amok in Malaysia oder Kuru in Neuguinea.[3] In den letzten Jahren wurde der Begriff jedoch zunehmend auch für analoge Phänomene in Westeuropa und Nordamerika populär. Häufig genannte Beispiele dafür sind Magersucht und Bulimie.
Klassifikation
Kritik
Einige Autoren kritisieren, dass der Begriff des kulturspezifischen Syndroms kulturalisierende Implikationen trägt, d.h. die Bedeutung kultureller Prägung für das Verhalten des Einzelnen überbetont, und Kultur als unwandelbare und abgeschlossene Einheit fehlkonzipiert. Nichter[5] schlägt daher "local idioms of distress" als alternativen Begriff vor, der sich jedoch bisher in der Literatur nicht durchgesetzt hat.
Quellen
- ↑ Greifeld, Katarina (1995): Medizinische Systeme Mittel- und Südamerikas. In: Beatrix Pfleiderer et al. (Hg.): Ritual und Heilung. Berlin: Dietrich Reimer Verlag. S. 123-126
- ↑ Scheper-Hughes, Nancy (1992): Death Without Weeping. The Violence of Everyday Life in Brazil. Berkeley: University of California Press. S. 167-215
- ↑ Rebhun, L. A. (2004): Culture-Bound Syndromes. In: Carol R. Ember (Hg.): Encyclopedia of medical anthropology. Health and illness in the world's cultures. New York: Springer. S. 324.
- ↑ Rebhun, L. A. (2004): Culture-Bound Syndromes. In: Carol R. Ember (Hg.): Encyclopedia of medical anthropology. Health and illness in the world's cultures. New York: Springer. S. 321.
- ↑ Nichter, M: Idioms of Distress: Alternatives in the expression of psychological distress. A case study from South India. Culture, Medicine, and Psychiatry 1981; 5:379-408