Bindungstheorie
Synonyme: Bindungskonzept, Bindungsmodell
Englisch: attachment theory, attachment style
Definition
Die Bindungstheorie ist ein entwicklungspsychologisches Konzept, das die Entstehung und Bedeutung emotionaler Bindungen zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen beschreibt. Sie wurde maßgeblich durch den britischen Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby begründet und von der US-amerikanischen Psychologin Mary Ainsworth weiterentwickelt.
Hintergrund
Bowlby postulierte, dass Bindung ein evolutionär verankertes Verhaltenssystem ist, das die Nähe zur Bezugsperson sichert und somit das Überleben des Säuglings fördert. Im Zentrum steht die Annahme, dass frühe Bindungserfahrungen die spätere emotionale und soziale Entwicklung nachhaltig prägen.
Bindungsverhalten
Bindungsverhalten ist ein biologisch gesteuertes, auf Nähe ausgerichtetes Verhalten, das vor allem in Situationen von Stress, Krankheit oder Trennung aktiviert wird. Die Bezugsperson fungiert dabei als sichere Basis („secure base“), von der aus das Kind seine Umwelt explorieren kann.
Bindungstypen nach Ainsworth
Mary Ainsworth untersuchte mit dem von ihr entwickelten „Fremde-Situations-Test“ empirisch das Bindungsverhalten im Kleinkindalter. Dabei identifizierte sie verschiedene Bindungsmuster:
- Sichere Bindung (Typ B): Das Kind zeigt Stress bei Trennung, lässt sich bei Rückkehr gut beruhigen und nutzt die Bezugsperson als sichere Basis.
- Unsicher-vermeidende Bindung (Typ A): Das Kind zeigt wenig Reaktion auf Trennung und meidet Nähe bei Wiedervereinigung.
- Unsicher-ambivalente Bindung (Typ C): Das Kind reagiert stark auf Trennung, ist bei Rückkehr jedoch schwer beruhigbar und zeigt widersprüchliches Verhalten.
- Desorganisierte Bindung (Typ D): Später eingeführte Kategorie; Kinder zeigen desorganisiertes, teils bizarr wirkendes Verhalten, oft bei Erfahrungen von Vernachlässigung oder Missbrauch.
Bedeutung für die Entwicklung
Bindungserfahrungen prägen sogenannte „innere Arbeitsmodelle“ (internal working models), also mentale Repräsentationen von Selbst und Anderen, die das spätere Beziehungsverhalten beeinflussen. Studien zeigen Zusammenhänge zwischen sicherer Bindung und höherer emotionaler Stabilität, Empathiefähigkeit und psychischer Gesundheit im Jugend- und Erwachsenenalter.
Klinische Relevanz
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie in der Psychotherapie (insbesondere bei Persönlichkeitsstörungen, z.B. Borderline) ist die Kenntnis über Bindungsmuster für die Diagnostik und Behandlung von psychischen Erkrankungen zentral. Bindungsorientierte Interventionen zielen auf die Förderung sicherer Beziehungserfahrungen und affektive Regulation.
Literatur
- Bowlby, J. (1988). A Secure Base: Parent-Child Attachment and Healthy Human Development. Routledge.
- Negrini, L. S. (2018). Handbook of Attachment, Third Edition: Theory, research, and clinical applications. JudeCassidy and Phillip R.Shaver (Eds.), New York: Guilford Press, 2016, 1,068 pp., ISBN 978‐1‐4625‐2529‐4. Infant Mental Health Journal, 39(5), 618–620.