Migrantenmedizin
Definition
Der Begriff Migrantenmedizin umfasst Aspekte der medizinischen, psychologischen soziologischen, politischen und juristischen Besonderheiten, die bei Migration von Menschen zwischen verschiedenen Ländern und Regionen im Vergleich zur autochthonen Bevölkerung eine Rolle für deren gesundheitliche Versorgung spielen.
Außerdem werden in dieser Disziplin die Auswirkungen und Mechanismen der Migration auf Krankheiten und Gesundheit verschiedener Gesellschaften betrachtet.
Medizinische Aspekte
Hier spielen epidemiologische, genetische und kulturspezifische Faktoren eine Rolle. Aufgrund klimatischer Unterschiede im Herkunftsland sind dort meist andere Krankheiten verbreitet. Auch Unterschiede in der medizinischen Infrastruktur sowie den allgemeinen Lebensbedingungen nehmen Einfluss auf das potentielle Krankheitsspektrum von Migranten.
Außerdem spielt die Einschränkung der Kommunikation durch verschiedene Muttersprachen für die Arzt-Patienten-Beziehung eine große Rolle. Dass hier keine optimale Gesprächssituation wie zwischen zwei Muttersprachlern hergestellt werden kann, wird in der Praxis häufig noch durch die Zuhilfenahme von Laiendolmetschern aggraviert. Sie können in den meisten Fällen nicht die Leistung eines professionellen Dolmetschers erbringen.
Psychologische Aspekte
Migranten sind häufig durch Gewalt, Folter, Krieg, Unterdrückung, Flucht und Vertreibung traumatisiert. Weitere psychologische Aspekte sind die Fremdheit in einem anderen Land, der Verlust der Heimat, Verpflichtungen gegenüber der Familie sowie die Hoffnung auf einen Neuanfang. Einen wichtigen Einfluss auf die psychische Situation hat ferner die unsichere Bleibe- und Zukunftsperspektive und die Angst vor drohender Ausweisung und Abschiebung.
Zu den psychologischen Aspekten zählen auch kulturspezifische Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit sowie das kulturgebundene Syndrom oder das Resignationssyndrom.
Soziologische Aspekte
Die soziologischen Aspekte der Migrantenmedizin umfassen den gesellschaftlichen Kontext, in dem sich Migranten bewegen und den Einfluss, den sie auf letzteren nehmen. Man kann hier zwischen der Gesellschaft des Herkunftslandes, des Ziellandes und den Netzwerken, die aufgrund teilweise ähnlicher Lebensbedingungen zwischen Migranten entstehen können, unterscheiden. Hierunter fallen auch die Folgen der Abwanderung aus den Herkunftsländern für die dortige Gesellschaft und der Healthy-Migrant-Effect.
Politische Situation
Mit der Auswanderung aus dem Heimatland verlieren Migranten ihr politisches Mitbestimmungsrecht, sodass sie ihre Interessen weder auf der Reise noch im Zielland politisch schützen können. Häufig kommt es zu gesellschaftlicher Diskriminierung durch die Bevölkerung des Ziellandes. Beides hat Auswirkungen auf das Selbstwirksamkeitsverständnis, den sozioökonomischen Status der Migranten und auf die Gesundheitsversorgung, die Migranten im Zielland zuteil wird.
Juristische Situation in Deutschland
Aus Sicht der Versorgungswissenschaft bzw. der Krankenversicherung kann man verschiedene Gruppen von Migranten unterscheiden:
- Migranten ohne Rechtsstatus (unregistrierte Migranten)
- Asylbewerber und Gedultete
- Anerkannte Flüchtlinge (inkl. subsidiär Schutzberechtigte)
- EU-Migranten
- Arbeitsmigranten
Grundlage für die medizinische Versorgung ist meist das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Hier werden in §4 medizinische Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt geregelt. Laut §4 Abs.1 und 2 sind neben Schutzimpfungen und Vorsorgeuntersuchungen nur bei Geburt und Schwangerschaft sowie in akuten Fällen und bei Schmerzen Leistungen zu Lasten der GKV bzw. der Leistungsbehörden (Sozialämter) zu gewähren.
In §6 des AsylbLG wird den zuständigen Leistungsbehörden eine in deren eigenem Ermessen liegende über §4 hinausgehende Gewährung von Leistungen in Einzelfällen zur Sicherung der Gesundheit eingeräumt. Durch diesen Spielraum der Behörden kann es - je nach Handhabung des für sie zuständigen Amtes oder Bundeslands - zu Unterschieden in der gesundheitlichen Versorgung von Asylbewerbern kommen.
Von einigen Seiten wird kritisiert, dass die gesundheitliche Versorgung Asylsuchender nicht an die der gesetzlich Versicherten heranreicht und somit im Widerspruch zu Art.2 Abs.2 und Art.3 Abs.3 des Grundgesetzes steht, wonach jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrheit hat und eine Benachteiligung aufgrund der Herkunft und Heimat nicht stattfinden darf.
Einen abweichenden Ansatz der Gesundheitversorgung von Asylbewerbern bietet das Bremer Modell, in dem seit 2005 Asylbewerber in Bremen in Zusammenarbeit mit der AOK Bremen/Bremerhaven eine Gesundheitskarte bekommen, über die nahezu das gleiche Leistungsspektrum wie bei regulär gesetzlich Versicherten angeboten wird. Das Bremer Modell findet inzwischen auch in Hamburg Anwendung. Auch in anderen Bundesländern gibt es Vorbereitungen, Gesundheitskarten für Asylbewerber einzuführen.
Neben der Gruppe der offiziell registrierten Asylbewerber und der qualifizierten Arbeitsmigranten gibt es die Gruppe der unregistrierten Migranten, die sich ohne offiziellen Aufenthaltstitel in Deutschland aufhalten. Da für diese Personen keine medizinischen Leistungen vorgesehen sind, sind die Lebensbedingungen im Fall von Krankheit oder Schwangerschaft kritisch, da die sozialstaatliche Absicherung entfällt. Hilfe wird in diesen Fällen, wenn überhaupt nur provisorisch durch Bekannte oder soziale Initiativen wie das Medinetz geleistet.
Quellen
- Tropenmedizin in Klinik und Praxis: mit Reise- und Migrationsmedizin hrsg. von Thomas Löscher, Gerd-Dieter, Burchard. ISBN: 3-13-785804-6, 978-3-13-785804-1
- Gesetze im Internet: AsylbLG
- Grundgesetz
- Bundeszentrale für politische Bildung
- Wikipedia: Gesundheitskarten nach AsylbLG
- Wikipedia: Migrationssoziologie
- Wikipedia: Healthy migrant effect
- Luis N. Rubalcava: The Healthy Migrant Effect: New Findings From the Mexican Family Life Survey
- Wikipedia: Kulturgebundenes Syndrom
- Resignation Syndrome. Frontiers in behavorial neuroscience