Rey-Osterrieth Complex Figure Test
nach dem Schweizer Psychologen André Rey (1906–1965) und dem belgischen Neuropsychologen Paul Alexander Osterrieth (1916–1980)
Englisch: Rey-Osterrieth complex figure test
Definition
Der Rey-Osterrieth Complex Figure Test, kurz ROCFT, ist ein neuropsychologisches Verfahren zur Untersuchung visuell-konstruktiver Fähigkeiten sowie der visuellen Gedächtnisleistung. Er wird häufig in der klinischen Diagnostik von Hirnschädigungen, Demenzen und anderen neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen eingesetzt.
Hintergrund
Der Test wurde ursprünglich 1941 von André Rey entwickelt und später 1944 von Paul-Alexandre Osterrieth standardisiert und erweitert. Er gehört heute zu den etablierten Verfahren in der neuropsychologischen Testbatterie und wird international verwendet.
Durchführung
Der ROCFT besteht aus einer komplexen geometrischen Figur, die der Testperson in drei Phasen vorgegeben wird:
Kopierphase ("Copy")
Die Testperson soll die Figur so genau wie möglich abzeichnen, während sie diese vor Augen hat. Diese Phase prüft visuell-konstruktive Fähigkeiten und Planungsverhalten.
Reproduktionsphase nach kurzer Verzögerung ("Immediate Recall")
Nach ca. 3 Minuten ohne Sicht auf die Figur wird die Person gebeten, die Figur aus dem Gedächtnis zu reproduzieren. Hierbei wird das Kurzzeitgedächtnis überprüft.
Reproduktionsphase nach längerer Verzögerung ("Delayed Recall")
Nach ca. 30 Minuten wird erneut eine Wiedergabe der Figur aus dem Gedächtnis verlangt, um die Langzeitgedächtnisleistung zu beurteilen.
Optional kann eine Rekognitionsphase ("Recognition") angeschlossen werden, bei der einzelne Bestandteile der Figur wiedererkannt werden sollen.
Auswertung
Die Auswertung erfolgt anhand standardisierter Scoring-Systeme. Hierbei werden einzelne Elemente der Figur hinsichtlich ihrer Vollständigkeit, Platzierung und Organisation bewertet. Die maximale Punktzahl variiert je nach Auswertungssystem (häufig 36 Punkte).
Neben quantitativen Werten wird auch die Zeichenstrategie qualitativ beurteilt, z.B. ob systematisch vorgegangen oder unsystematisch einzelne Elemente isoliert gezeichnet werden.
Interpretation
- Eingeschränkte Kopierleistung spricht für visuell-konstruktive Defizite, wie sie bei parietalen Läsionen oder Demenzen (z.B. Alzheimer-Krankheit) vorkommen.
- Defizite in den Gedächtnisphasen weisen auf Störungen der Enkodierung, Speicherung oder des Abrufs hin.
- Der Test erlaubt auch Rückschlüsse auf exekutive Funktionen, z.B. Planung und Organisation.
Anwendungsgebiete
- Neuropsychologische Diagnostik bei Hirnschädigungen (z.B. Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma)
- Demenzdiagnostik (v.a. Alzheimer-Krankheit)
- Evaluation von Aufmerksamkeits- und Planungsleistungen
- Entwicklungsneuropsychologie (bei Kindern modifiziert einsetzbar)
Varianten
Neben der klassischen Rey-Osterrieth-Figur existieren vereinfachte Versionen, wie die Taylor Complex Figure, die für Re-Test-Situationen oder spezifische Fragestellungen verwendet werden.
Quelle
- Shin et al., Clinical and empirical applications of the Rey–Osterrieth Complex Figure Test, Nat Protoc, 2006