Narrative Expositionstherapie
Definition
Die Narrative Expositionstherapie, kurz NET, ist ein therapeutisches Kurzzeitverfahren zur Traumaaufarbeitung von mehrfach und komplex Traumatisierten.
Hintergrund
Multiple Traumata manifestieren sich unbehandelt häufig in einer psychischen und körperlichen Symptomatik (z.B. Depression, Posttraumatische Belastungsstörung), die nicht selbstständig abklingt, sondern sich chronifiziert.[1][2] Patienten zeigen häufig eine Unfähigkeit der willentlichen Erinnerungssteuerung. Das heißt, während sensorisch-emotionale Aspekte besonders gefestigt und abrufbar scheinen, fehlt häufig die korrekte Zuordnung in Zeit und Raum.
Die NET beruht auf Forschungsergebnissen von Margarete Schauer, Frank Neuner und Thomas Elbert. Bereits das Schildern der lebensbedrohlichen Erlebnisse durch den Patienten, das empathische Zuhören und die Würdigung des Traumas durch den Behandelnden erreichen eine Linderung der Symptomatik.
Aufgrund dieser Erkenntnisse wurde die NET als ein theoriegeleitetes Kurzzeitverfahren entwickelt, das chronologisch alle stark emotional besetzten und traumatisierenden Ereignisse der Patientenbiographie behandelt.[3]
Behandlungsziel
Die Kontextualisierung des Erlebten ermöglicht die Integration von Emotionen und Sinneseindrücken in den korrekten, auf Zeit und Raum bezogenen, biographischen Gesamtzusammenhang.[1] Dadurch soll die akute Symptomatik gemildert und eine Chronifizierung vermieden werden.
Mithilfe der Mitschriften des Behandelnden während der Sitzungen entsteht ein Narrativ der Biographie des Patienten. Insbesondere in der Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten kann dieses Dokument mit Einverständnis des Patienten, zusätzlich zu seinem therapeutischen Effekt, im Asylverfahren oder in der Kinder- und Menschenrechtsarbeit verwendet werden oder für Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit.
Indikationen
Die Narrative Expositionstherapie wurde entwickelt für Patienten, die durch das Erleben lebensbedrohlicher Situationen unter multiplen und komplexen Traumata leiden. Da die multiplen Traumatisierungen oft im Zusammenhang mit Krieg und Flucht stehen, sind in Deutschland bestimmte Bevölkerungsgruppen überproportional davon betroffen, beispielsweise:
- geduldete/abschiebegefährdete Flüchtlinge[1]
- Asylbewerber[4]
- Überlebende von Misshandlung und/oder Vernachlässigung[3]
- Überlebende von Naturkatastrophen[4]
Aufgrund ihrer häufig prekären rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Situation, stehen diesen Patienten oft nur wenige Behandlungssitzungen zur Verfügung, weshalb sich die NET hier besonders eignet.
Praktische Umsetzung
Erfassung der Lebensereignisse
Durch ein strukturiertes Interview sollen traumatische Erfahrungen, Symptome und Symptomschwere eruiert werden. Zusätzlich sind psychoedukative Elemente, sowie die Besprechung des weiteren Vorgehens und der angedachten Interventionen mit dem Patienten relevant.[4]
Erstellung einer "Lifeline"
Die Lifeline soll die biographische Zeitachse des Patienten symbolisieren. Dieser wird instruiert, entlang einer Kordel, Schnur oder Ähnlichem chronologisch Gegenstände für prägende Lebensereignisse zu legen. Dabei können Steine für negative und traumatische Erfahrungen platziert werden, Blumen können beispielsweise für positiv wahrgenommene Ereignisse verwendet werden.[1][4][5] Dem Patienten soll ermöglicht werden, seine Biographie in ihrer Gesamtheit und in richtiger chronologischer Abfolge wahrzunehmen. Die erstellte Lifeline bildet die Grundlage für die in den folgenden Sitzungen stattfindende, ausführliche und geordnete Narration der Lebensgeschichte durch den Patienten.
Narrative Exposition
Der Patient wird vom Behandelnden angeleitet, seine Biografie, möglichst detailreich von der Geburt bis zum heutigen Tag, zu erzählen. Gelangt die Narration zu einem Ereignis, das für den Patienten hochemotional behaftet ist, so ist das Gespräch durch den Behandelnden zu verlangsamen.[1] Durch vertiefendes Nachfragen exponiert sich der Patient der Traumaszene mit Unterstützung des Behandelnden. Erfragt wird:
- die Wahrnehmung ("Was haben Sie damals gesehen/gehört/gerochen/geschmeckt/getastet?")
- die begleitende Kognition ("Was haben Sie sich in der Situation gedacht? Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen?")
- die Emotionen und deren körperliche Verortung ("Wie haben Sie sich gefühlt? Haben Sie Angst, Wut, Ekel, etc. empfunden?" "Wo und wie bzw. in welcher Form spüren Sie das in Ihrem Körper?")
- die Bedeutung ("Hat sich durch diese Erfahrung etwas in Ihrem Leben verändert? Wenn ja, was "Was bedeutet es für Sie, diese Situation erlebt zu haben?")[4]
Es kommt zur räumlich-zeitlichen Einordnung des Geschehenen durch Kontextualisierung. Der Behandelnde unterstützt die Kontrastierung zwischen in der Vergangenheit stattgefundener Traumasituation und aktuellem Wiedererfahren durch Orientierungsübungen.[4][1] Durch Hinweise des Behandelnden auf räumlich-zeitliche Unterschiede ("Wie alt waren Sie damals? Wie alt sind Sie jetzt?") und sensorische Unterschiede ("Welche Gegenstände konnten Sie damals sehen? Welche Gegenstände sehen Sie jetzt gerade in diesem Raum?"), sollen sensorisch-emotionale Gedächtnisinhalte korrekt der Situation in der Vergangenheit zugeordnet werden.[1]
Rolle des Therapeuten
Der Behandelnde tritt dem Patienten offen und empathisch gegenüber. Er motiviert ihn, durch aktives Zuhören und Spiegeln, zu erzählen. Bewertungen der Narration erfolgen nicht. Lediglich Schilderungen von Handlungen, die gegen Menschenrechte verstoßen, werden verurteilt. Dadurch soll der Patient seine Würde wiedererlangen und seine Lebensgeschichte Anerkennung erfahren.[4][1]
Qualifikation
Ursprünglich wurde die NET entwickelt, um bei Personalmangel auch von nicht-psychotherapeutisch ausgebildeten Personen durchgeführt zu werden.[5] Fortbildungen richten sich heute häufig an Ärzte, Psychologen, (Kinder- und Jugend-)Psychotherapeuten oder andere Berufsgruppen bzw. Institutionen, die mit traumatisierten Patienten arbeiten. Sie werden von verschiedenen Universitäten angeboten.
Adaptationen
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 1,6 1,7 [1], Schauer M, Elbert T, Neuner F (2017): Narrative Expositionstherapie (NET) für Menschen nach Gewalt und Flucht - Ein Einblick in das Verfahren. Erstmals veröffentlicht in Psychotherapeut (2017), Ausgabe 62, S. 306–313.
- ↑ [2], Schauer M, Neuner F, Karunakara U, Klaschik Ch, Robert C, Elbert T (2003): PTSD and the “building block” effect of psychological trauma among West Nile Africans. Erstmals veröffentlicht in: European Society for Traumatic Stress Studies Bulletin (2003), Ausgabe 10, S. 5-6.
- ↑ 3,0 3,1 [3], Schauer M, Ruf-Leuschner M: Lifeline in der Narrativen Expositionstherapie. Erstmals veröffentlicht in: Psychotherapeut (2014), Ausgabe 59, S. 226–238.
- ↑ 4,0 4,1 4,2 4,3 4,4 4,5 4,6 4,7 4,8 [4], Jacob N, Wilker S, Isele D (2017): Narrative Expositionstherapie zur Behandlung von Traumafolgestörungen. Erstmals veröffentlicht in: Swiss Archives of Neurology, Psychiatry and Psychotherapy (2017), Ausgabe 168(04), S. 99-106.
- ↑ 5,0 5,1 [5], Robjant K, Fazel M (2010): The emerging evidence for Narrative Exposure Therapy: A review. Erstmals veröffentlicht in: Clinical Psychology Review, Volume 30, Augabe 8 (2010), S. 1030-1039, ISSN 0272-735.
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