Synonyme: benigne intrakranielle Hypertension, Pseudotumor cerebri (obsolet)
Englisch: Idiopathic intracranial hypertension, benign intracranial hypertension
Die idiopathische intrakranielle Hypertension, kurz IIH, bezeichnet eine sekundäre Kopfschmerzerkrankung mit intrakranieller Liquordruckerhöhung ohne Nachweis einer organischen Ursache. Sie kann mit einem Papillenödem und Sehstörungen einhergehen.
Es existieren verschiedene Synonyme, die heutzutage vermieden werden sollten. Mit dem Begriff "Pseudotumor cerebri" wird darauf hingewiesen, dass die Symptome des erhöhten Hirndrucks einem zerebralen Tumor ähneln. Die Beschreibung benigne intrakranielle Hypertension ist euphemisierend, da die Erkrankung durchaus mit gravierenden Komplikationen einhergehen kann.
Die IIH ist eine seltene Erkrankung mit einer Inzidenz von ungefähr einem Fall pro 100.000 Einwohner pro Jahr. Eine Häufung findet sich bei übergewichtigen Frauen zwischen dem 15. und 45. Lebensjahr.
Wie der Erkrankungsname bereits anzeigt, ist die IIH eine idiopathische Erkrankung, d.h. die Ursache ist zur Zeit (2020) unbekannt.
Eine Assoziation zur raschen Gewichtszunahme und zur Gravidität konnte in mehreren Studien gezeigt werden. Eine Hypothese geht davon aus, dass die Adipositas infolge eines erhöhten intraabdominellen, pleuralen und kardialen Füllungsdrucks zur zerebralen venösen Abflussbehinderung führt.
Wenn Hinweise für eine zugrunde liegende Ursache der Liquordrucksteigerung vorliegen, sollte von einer sekundären intrakraniellen Hypertension (SIH) ausgegangen werden. Jedoch ist die Trennung zwischen einer idiopathischen und einer sekundären intrakraniellen Hypertension oft willkürlich, da bei vielen Risikofaktoren eine kausale Pathogenese unzureichend belegt ist. So kann beispielsweise ein polyzystisches Ovarialsyndrom lediglich eine Folge der Adipositas sein.
Das Leitsymptom der IIH ist der Kopfschmerz, der oft über Stunden mit starker Intensität anhält, meist täglich ein- oder beidseitig auftritt, pulsatilen Charakter hat und gelegentlich auch retrobulbäre Schmerzen verursacht. Typischerweise verschlechert sich der Schmerz durch körperliche Aktivität und Valsalva-Manöver. Begleitend treten häufig Schulter- und Nackenschmerzen auf.
Als Folge der intrakraniellen Liquordrucksteigerung kommt es zu meist beidseitigen Stauungspapillen. Die Ausprägung der Symptomatik variiert jedoch stark. Oft sind die Ausfälle minimal und zeigen sich bei erstmaliger Untersuchung nur durch eine Vergrößerung des blinden Flecks. Möglich sind Visusminderung, transiente Obskurationen (Verdunkelungen) und periphere Gesichtsfeldausfälle. Weitere möglichen Symptome sind Übelkeit, ein pulsatiler Tinnitus und horizontale Doppelbilder durch ein- oder beidseitige Abduzensparesen (v.a. bei Kindern). Eine Bewusstseinsstörung passt nicht zur Diagnose einer IIH.
Unbehandelt und bei längerer Dauer kann ein Papillenödem eine Optikusatrophie verursachen. Dies kann zur irreversiblen Schädigung des Nervus opticus mit Erblindung führen.
Eine sorgfältige Anamnese unter Abfrage der klinischen Leitsymptome ist der erste Schritt der Diagnostik. In der Anamnese sind die Medikamentenanamnese, endokrine Besonderheiten, Hinweise auf ein Schlaf-Apnoe-Syndrom sowie eine Adipositas bzw. rasche Gewichtszunahme abzufragen.
An die Anamnese schließt sich eine detaillierte neurologische und augenärztliche Untersuchung an. Meist zeigen sich keine pathologischen Auffälligkeiten. Fakultativ lassen sich eine Visusminderung, Gesichtsfeldausfälle in der Perimetrie und Abduzensparesen feststellen.
Die MRT in Kombination mit der MR-Venographie ist die Methode der Wahl und einer kontrastmittelgestützten CT-Venographie überlegen. Sie dient in erster Linie dem Ausschluss einer intrakraniellen Raumforderung, eines Hydrozephalus sowie einer Sinusvenenthrombose. Notwendige Sequenzen sind:
Typische, wenn auch keine pathognomonische Zeichen sind:
Bei nicht eindeutiger Klinik kann mittels B-Bild-Orbitasonographie eine Papillenprominenz und das Optikusscheidenphänomen dargestellt werden. Mittels Optischer Kohärenztomographie (OCT) lässt sich eine Verdickung der peripapillären Nervenfaserschicht als Zeichen eines Stauungsödems bei sonst normalem Papillenbefund nachweisen. Jedoch ist die Sensitivität eingeschränkt, da eine beginnende Atrophie einen Normalbefund vortäuschen kann.
Im durch eine Lumbalpunktion gewonnenen Liquor wird die Zellzahl und der Eiweißgehalt inklusive Reiber-Analyse bestimmt. Außerdem wird in Seitenlage der Liquordruck gemessen. Bei normalen Werten sollte aufgrund der zeitlichen Fluktuation des Liquordrucks die Messung wiederholt oder eine kontinuierliche lumbale Liquordruckmessung vollzogen werden. Warum eine Lumbalpunktion trotz der eigentliche Kontraindikation des erhöhten Hirndrucks fast immer ohne weitere Komplikationen durchgeführt werden kann, ist unklar. In Einzelfällen sind Herniationen jedoch beschrieben.
Eine digitale Subtraktionsangiographie ist indiziert bei unklarem MRT-Befund, Kontraindikationen für eine MRT und/oder zur intravenösen Druckmessung zwischen Bulbus venae jugularis und Sinus sagittalis inferior vor Anlage eines Stents bei Verdacht auf eine venöse Stenose.
Es gibt verschiedene Systeme zur Diagnostik, die sich sehr ähnlich sind (z.B. modifizierte Dandy-Kriterien, Diagnosekriterien nach Friedmann und Jacobsoni, Diagnosekriterien gemäß ICHD-3). Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Kriterium | Ergänzung |
---|---|
Befunde und Symptome durch einen erhöhten intrakraniellen Druck erklärbar |
Patient wach und voll orientiert |
Erhöhter Liquordruck in Seitenlage > 25 cmH2O (entspricht ca. 18 mmHg) |
|
Normaler biochemischer und zellulärer Liquorbefund | |
Ausschluss einer strukturellen oder vaskulären Läsion in MRT und MR-Venographie |
insbesondere kein Hydrozephalus, keine intrakranielle Raumforderung oder Sinusvenenthrombose |
Keine relevante Medikation oder andere identifizierbare endokrine bzw. metabolische Ursache |
außer Adipositas |
Die folgenden Empfehlungen beziehen sich zwar primär auf die IIH, können jedoch auch auf sekundäre Formen übertragen werden, wenn eine Therapie der Grunderkrankung nicht bzw. nicht schnell genug möglich ist.
Vorrangige Priorität hat die Senkung des Liquordrucks zur Verhinderung von irreversiblen Schäden des Nervus opticus. Begleitend dienen NSAR oder Paracetamol zur symptomatischen Analgesie.
Für eine langfristig erfolgreiche Therapie ist eine Gewichtsnormalisierung essenziell.[1] Bei massiv übergewichtigen Patienten kann eine Adipositaschirurgie - unter Berücksichtigung von möglicherweise schweren Langzeitkomplikationen - zur Besserung aller Symptome führen.[2]
Die diagnostisch notwendige Lumbalpunktion zeigt zumindest kurzfristig auch einen therapeutischen Effekt und verbessert den erhöhten Druck und den venösen Abstrom.[3] Wiederholte Lumbalpunktionen sind üblich und scheinen auch wirksam zu sein, jedoch mangelt es an entsprechenden Studien, v.a. im Hinblick auf die Compliance und das Risiko einer Liquorfistel und postpunktioneller Kopfschmerzen.
Bisher ist kein Medikament explizit zur Therapie der IIH zugelassen. Acetazolamid (2 x 250–2000 mg/d off-label) in Kombination mit einer Diät ist der alleinigen Diät überlegen. Sowohl Gesichtsfelddefekte, Papillenödem, Lebensqualität als auch der Liquordruck zeigten sich in einer multizentrischen, randomisierten, placebokontrollierten Studie als signifikant verbessert.[4]
Acetazolamid vermindert durch Hemmung der Carboanhydrase die Liquorproduktion. Die Dosierung muss einschleichend erfolgen. Die Langzeitwirkung kann nachlassen (Escape-Phänomen). Mögliche Nebenwirkungen sind Hypokaliämie, metabolische Azidose sowie selten eine aplastische Anämie. Ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko wurde beim Menschen bisher nicht beobachtet, eine Gabe im 1. Trimenon sollte jedoch vermieden werden, im 2. und 3. Trimenon bleibt es Therapie der Wahl.[5] Eine Kombination von Acetazolamid mit Furosemid ist möglich, kontrollierte Studien hierzu fehlen.
Alternativ kann Topiramat (50–200 mg/d) eingesetzt werden, wenn auch bei deutlich schwächerer Studienlage.[6][7] In der Schwangerschaft ist der Einsatz kontraindiziert, da der Wirkstoff im 1. Trimenon zu einem erhöhten Fehlbildungsrisiko (v.a. Lippen-Kiefer-Gaumenspalte) und im 2. und 3. Trimenon zu vermindertem Geburtsgewicht und kognitiven Störungen beim Kind führen kann. Topiramat wirkt wahrscheinlich über eine schwache Hemmung der Carboanhydase, einen Gewichtsverlust und eine Stabilisierung neuronaler Zellmembranen.
Glukokortikoide sollten wegen des Risiko eines Rebound-Phänomens und einer Gewichtszunahme nur zurückhaltend und kurzfristig eingesetzt werden. Eine Indikation wäre das Versagen der anderen Therapiemaßnahmen bei drohendem Visusverlust zur Überbrückung bis zu einer invasiven Maßnahme. Hierbei wird eine hochdosierte Therapie mit Dexamethason 4 x 8 mg pro Tag empfohlen.
Über den Nutzen von Octreotid wird in zwei Studien berichtet.[8][9]
Eine Option zur langfristigen Normalisierung des Liquordrucks ist die Anlage eines lumboperitonealen (LP-) oder ventrikuloperitonealen (VP-)Shunts.[10][11][12] Komplikationen sind Dislokationen sowie Überdrainagen, die sich durch Kopfschmerzen im Stehen und einen evtl. Tonsillentiefstand zeigen. Eine Überdrainage kann durch lageabhängige Schwerkraftventile vermieden werden.
Eine mikrochirurgische Optikusscheidenfensterung (ONSF) führt fast immer zu einer anhaltenden Stabilisierung und kann die Kopfschmerzen positiv beeinflussen, hat aber keinen Einfluss auf den kontralateralen, nicht operierten Sehnerv.
Bei nachgewiesener Sinusverengung kann eine endovaskuläre Stentangioplastie einen kausaltherapeutischen Ansatz darstellen. Lebenslange Thrombozytenaggregationshemmung ist notwendig. Rezidivstenosen und schwere Komplikationen sind möglich, jedoch zeigen bisherige Studien nur eine geringe Komplikationsrate. Sowohl langfristige als auch randomisierte Daten fehlen hierzu.
Durch eine Gewichtsabnahme und konservative Therapie kann oft ein guter Erfolg erzielt werden. Trotzdem treten Rezidive bei etwa der Hälfte der Patienten auf, insbesondere bei Wiederanstieg des Gewichts. Wenn die Stauungspapille nicht rechtzeitig erkannt wird, kommt es zu irreversiblen Schäden des Nervus opticus. Entsprechend zeigen ungefähr 25% der Patienten nach jahrelangem Verlauf eine anhaltende Sehstörung.
Tags: Adipositas, Kopfschmerzen, Sehstörungen
Fachgebiete: Neurologie
Diese Seite wurde zuletzt am 6. Juli 2020 um 10:49 Uhr bearbeitet.
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